Gesellschaftliche Probleme im Fokus

Annette Hager im Interview mit der Stadtzeitung, Wuppertal 1.12.2023

Annette Hager als „Wüstentalk“-Moderatorin mit Talk-Gast Roland Prokop
Foto: Oskar Siebers

Annette Hager ist eine erfolgreiche und vielseitige Journalistin. Sie arbeitet fürs Fernsehen und fürs Radio. Für den Rundfunk-Sender WDR 3 moderiert sie das Magazin „Resonanzen“. Sie interessiert sich für die Schicksale, Sorgen und Nöte ganz normaler Menschen.

Deshalb ist es für sie eine Herzensangelegenheit, das Format „Wüstentalk“ in der „Färberei – Zentrum für Integration und Inklusion“ zu moderieren – weit weg von TV-Kameras, Mikrofonen und Scheinwerfern.

 

Am Mittwoch (06.12.) heißt das Thema „Ich bin (nicht) freiwillig hier! – Lebensreisen“. In heimeliger Wohnzimmer-Atmosphäre unterhält sich Annette Hager mit der bekannten Wuppertaler Bestatterin Barbara Neusel-Munkenbeck über das Thema „Wenn Leben (plötzlich) endet“, mit der Suchtberaterin Ulrike Bautz über ihren Neustart in Wuppertal, mit dem Flüchtling und Lehrer Ahmed Gulag und mit Max Moll, theologischer Mathematiker und Jugendseelsorger.

 

Wir haben uns mit Moderatorin Annette Hager über ihre Motivation unterhalten.

 

DS: Sie sind beruflich sehr breit aufgestellt, arbeiten als Moderatorin und Journalistin für Rundfunk und Fernsehen. Was reizt Sie daran, „Wüstentalk“ zu moderieren, quasi ein Talkformat in Wohnzimmer-Atmosphäre?

Annette Hager: „Eben das Wohnzimmer – d.h.: noch besser ist ja Küchenatmosphäre – da ist ja der Ort für´s Wichtige. Dazu gehört das normale alltägliche Leben in Deutschland und in der Welt – kaum in Medien, weil Nachrichten nach bestimmten Regeln gemacht werden, und dazu gehört, was der Literaturnobelpreisträgers Saul Bellow beschrieben hat: „Das Problem der Zeitungsberichterstattung liegt darin, dass das Normale uninteressant ist.“ Ich bin sehr froh, im vielfältigen Programm der Färberei aufzutauchen; der „Wüstentalk“ ist jetzt ein Teil des großartigen soziokulturellen Projekts „transit_oberbarmen“ von Daniela Raimund und Roland Brus: Eine ähnliche Mischung der Teilnehmer, wo der Rentner der Geflüchteten zuhört, ein Philosoph neben einem Obdachlosen sitzt und ein namhafter Künstler durch eine Frau mit psychischer Erkrankung ins Nachdenken kommt, habe ich noch nirgends erlebt.“

 

DS: Welches Konzept steht dahinter?

Annette Hager: „Die erhoffte Mischung gehört dazu, es soll um Begegnung und eine Kompetenz gehen, die uns zunehmend verloren geht: Zuhören. Die Färberei steht für Vielfalt und dafür, auch für Menschen offen zu sein, denen sich nicht alle Türen schnell öffnen, deren Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten vielleicht noch wachsen muss. Ich bin überzeugt, dass ein großer Teil unserer gesellschaftlichen Probleme damit zu tun hat, dass Menschen sich nicht gesehen und gehört fühlen – und stummer werden. Jetzt geht´s mit der erhöhten Mehrwertsteuer auch noch einem „feuilletonrelevanten Glutkern des Sozialen, einem Herdfeuer gewissermaßen“ (ZEIT) an den Kragen: Der Gastronomie… Wo trifft man noch auch Unbekannte und kann miteinander reden – auch ohne für Getränke oder gemütlichen (warmen) Raum zahlen zu müssen?“

 

DS: Nach welchen Kriterien suchen Sie ihre Themen aus?

Annette Hager: „Die sind angelehnt an das, was Daniela Raimund und Roland Brus gerade als übergreifendes Projekt angestoßen haben – jetzt also „Transit“ – womit wir am 06.12. „Lebensreise“ meinen – am 13.März wird es dann um die Entwicklung und Transformation eines Stadtteils gehen: Im Allgemeinen und im Besonderen: In Oberbarmen gab es mal den sozialen Brennpunkt „Klingholzberg“ und noch immer gibt es das Stigma in einem Quartier, das sich nicht nur durch die sich wandelnde Bevölkerungsstruktur verändert; hier ist alles in Bewegung und viele sind sehr aktiv!“

 

DS: Das Etikett „Nachbarschaftstalk“ deutet daraufhin, dass ihre Talkgäste aus Wuppertal kommen. Welchen vermeintlichen Protagonisten würden Sie auf keinen Fall eine Bühne bieten?

Annette Hager: „Nachbarschaftstalk“ ist mehr ein Erfahrungswert und eher atmosphärisch denn geographisch gemeint: Es waren schon „Auswärtige“ da und niemand bleibt draußen. Wer sich Vielfalt und Weltoffenheit, Inklusion und Integration auf die Fahnen schreibt – also für demokratische Werte einsteht ist automatisch für manche uninteressant. Andererseits glaube ich, dass auch das derzeit besonders verbreitete Ausladen und Unterdrücken von Minderheitenmeinungen ein Armutszeugnis für eine Demokratie ist, die wehrhaft sein will – und das zunehmend sein muss. Auch das Aushalten anderer Meinung gehört ja zur Demokratie, Widerspruch zur freien Meinungsäußerung. In der Praxis waren unerwünschte Gäste noch nie ein Thema für uns.“

 

DS:In der Stadt gibt es mittlerweile eine Reihe von Talkformaten. Wie setzen Sie sich von diesen ab?

Annette Hager: „Bei uns gibt es kein Podium, keine „Experten“ im üblichen Sinn: Alle sind gleichermaßen mit ihren Geschichten und Erfahrungen, mit ihrer täglichen Lebensklugheit gefragt. Es gibt einige wenige Gäste, die eingeladen wurden – einfach, damit wir wissen: Es werden sicher Menschen da sein: mit Geschichten zum Thema, die auch erzählen wollen, mit denen ich ein Gespräch sicher beginnen kann. Wir versuchen eine Atmosphäre zu schaffen, in der Erzählen leicht fällt, in der – anders als in vielen Talks – das Konfrontative nicht im Vordergrund steht.“

 

DS: Wie sehr hängt die Publikums-Resonanz vom Thema ab?

Annette Hager: „Wir waren schon öfter überrascht, wie konkret und lebensnah ein Abend zu einem eher abstrakt anmutenden Thema wurde – und umgekehrt: Ein bisschen Wundertüte sind diese Abende – die ja auch offen sein wollen für Stimmung, Entwicklungen und überraschende Wendungen.“

 

DS: „Ich bin (nicht) freiwillig hier! – Lebensreisen“ ist ein spannendes, aber auch ein sehr ernstes, schweres Thema, weil es da um den Tod geht und um Sucht und Flucht – ein ideales Thema für die Vorweihnachtszeit, weil viele Menschen da ihr Leben reflektieren?

Annette Hager: „Ja, diese Zeit ist ja „eigentlich“ eine besinnliche und die „heilige Nacht“ – eigentlich – voll mit dem, was uns aktuell beschäftigt: Gewalt und Flucht, verschlossene Türen und eine Geschichte, eine Botschaft, die sich schwer tut in rauer Wirklichkeit. Und auch heute ist der Dezember ja beileibe nicht die puderzuckersüße Heimlichkeit und – siehe oben – die Zeit der Begegnung! Die schweren Themen sind uns in den letzten Jahren näher gerückt: Auch das Bedürfnis ihnen auszuweichen – oder eben: sich auszutauschen. Gerade in der Zeit des Wünschens und Schenkens fragt man sich, was wirklich wichtig ist?“

 

DS: Was bewegt oder fasziniert Sie persönlich an dem Thema?

Annette Hager: „Mehrfach habe ich die Erfahrung gemacht, dass es – auch – eine besondere Art ist, das Leben zu feiern, wenn von Tod und Krankheit, Einbrüchen und (Um)Wegen die Rede ist. Immer wieder beeindruckt mich die Offenheit, mit der Menschen anderen mit eigenen Geschichten Mut machen.“

 

DS: Welche Wünsche und Hoffnungen verbinden sie mit dem Jahr 2024, das schon in wenigen Wochen beginnt?

Annette Hager: „Mehr Frieden in der Welt ist ja zur zwingenden Antwort geworden…Davor und dafür ist aber ja vieles andere wichtig: Mehr Respekt untereinander – mehr Wertschätzung von vielem, was hierzulande zur Selbstverständlichkeit geworden ist und damit verbunden Schluss mit dem verächtlichen Bashen und Kleinreden, das so verbreitet ist und befreiend und erleichternd wirken kann – und das doch den wirklichen zu bashenden und zu ächtenden Kräften gefährlichen Auftrieb gibt.“

 

Das Interview führte Peter Pionke

 

Mehr über das Projekt tansit_oberbarmen: http://www.faerberei-wuppertal.de

Der Artikel im Original: https://www.die-stadtzeitung.de/index.php/2023/12/01/annette-hager-gesellschaftliche-probleme-im-fokus/

 

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